Die letzte Umarmung

 

Das letzte Mal, dass wir unseren lieben Freund Andreas im April sahen, grillten wir zusammen auf der Terrasse und hatten eine angeregte Unterhaltung: er, ich, seine Frau Sylvia und meine Frau Vivian. Ganz genau so, wie wir es in den letzten Jahren getan hatten.

 

Am nächsten Tag machte ich mich auf den Weg zur Arbeit. Ich umarmte meinen alten Freund ein letztes Mal. Seine Umarmungen waren ehrlich, lang, wie die eines erwachsenen Kindes, jene, die Liebe, Loyalität und dieses übernatürliche Gefühl vermitteln, dass man sich schon aus einem früheren Leben kennt. Ein merkwürdiges Gefühl, das ich mir bis heute nicht erklären kann. Wir würden uns im Juni wiedersehen. Wie immer: er beschäftigt mit tausend Dingen, hier und dort, mit denen ich ihm wegen meines engen Arbeitsalltags nicht mehr helfen konnte.

 

Am Sonntag, den 13. Mai, im Morgengrauen, erreichte mich Sylvias Nachricht. Andreas war gestorben… Ich machte meine Sonntagstour, nach meinem Morgengebet. Tausende Dinge gingen mir durch den Kopf, während ich vor lauter Weinen kaum vernünftig fahren konnte… wie wir uns in Kuba vor mehr als zwei Jahrzehnten kennen gelernt hatten und wie er mein Vorbild und mein großer Bruder gewesen war in all diesen Jahren…

 

Ich kann mich nicht entsinnen, seit dem Tode meines Vater im Jahr 2000, einen so intensiven Schmerz empfunden zu haben: dieses Gefühl der Leere, der Unruhe… und ich weinte, lange und ausdauernd. Ich dachte, es würde mir helfen mich zu erleichtern. Aber nein. Der Schmerz und die Unsicherheit ließen mich nicht zur Ruhe kommen. Nicht einmal, wenn ich mit Sylvia sprach oder mit meiner Frau Vivian, oder mit unseren gemeinsamen Freunden. Ich bot an, sofort nach Deutschland zu fliegen, aber Sylvia bat mich, hier zu bleiben. Sie möchte Ruhe, eine einfache Beerdigung für ihren außergewöhnlichen Mann.

 

Sie bittet mich, dass ich ihr mit den organisatorischen Sachen in Florida helfe; mit der Sprache, mit den Formalitäten, die in diesem Fall zu erledigen sind.

 

Und so bleibt mir, den alten Freund von einem fernen, einsamen Platz aus zu beweinen. Ohne Gefühlsbrüche. Mich an ihn zu erinnern, wie er war, seine Fotos anzusehen und in meinem untröstlichen Kummer festzustellen, dass ich noch zwei der Bücher, die er mir gegeben hat, mit mir herumfahre.

Ich bekomme diese letzte Umarmung nicht aus dem Kopf, der Zeitdruck, diese herzliche Geste, die wir von geliebten Menschen geschenkt bekommen, während wir selbst in Eile sind, mit der Uhr im Blick. Wir lösen uns daraus, weil wir glauben, dass es später andere Momente wie diesen geben wird…

Dieser letzte Moment verfolgt mich jede Nacht, wenn ich wach liege und das erste, was mir einfällt, ist, dass ich ihn nie wiedersehen werde. Dass ich meinen ewigen Partner in Konferenzen, Literaturzirkeln und philosophischen Diskussionen nicht mehr habe.

 

Ich bin todtraurig. Mit einem schlechten Gewissen, weil ich die Arbeit nicht beiseite geschoben habe und mir nicht einen ganzen Tag genommen habe, ihm zuzuhören, seinen interessanten Gedanken zu lauschen…

Weinen tröstet mich nicht. Ich glaube, es macht alles nur noch schlimmer. Alle sagen, dass Weinen hilft. Nicht mir.

 

Meine Familie in Kuba, meine Freunde in Florida, in Leipzig. Alle teilen ein Kapitel meiner Geschichte, in dem Andreas dabei war. Trotz der Sprachbarriere oder der kulturellen Unterschiede.

 

Weder ich noch er glaubten an religiöse Rituale. Ich habe ein Gebet gesprochen, meinen eigenen, inneren Gott gebeten, Andreas meinen Dank für diese 24 Jahre Freundschaft, Führung und Verständnis zu übermitteln.

Ich habe ihn gebeten, mir zu verzeihen, wenn ich in einem Moment egoistisch mit meiner Zeit umgegangen bin und in meiner irdischen Unwissenheit nicht erkannt habe, dass Andreas ein überirdisches Wesen war, das Gott in mein Leben geschickt hat, um mir dabei zu helfen, zu wachsen: als Freund, als Ehemann und Vater…

Dieses “Gespräch” beruhigt mich- für den Moment. Ich habe zur Sonne gesehen, barfuß, habe Mutter Erde gespürt. Ohne Sakrament, ohne Liturgie, nur meine eigene Ehrlichkeit und dieses Band aus Liebe und Respekt, das uns im Leben vereinte.

 

An alle diejenigen, die Andreas kannten: Möget ihr wissen, dass der große Freund, der gute Vater, der unschätzbare Ehemann, der erfolgreiche Unternehmer, ruhig, in seinem Bett, in den Armen seiner geliebten Frau Sylvia, seiner ewigen Begleiterin in jedem Abenteuer seines Lebens, von uns gegangen ist.

 

Geh in Frieden, mein Freund: danke, dass du mich ausgewählt hast, wenngleich ich dir nicht ebenbürtig war.

 

                                                                   Miami Beach, 17.Mai 2018

 

 

 

Die Leiden des Felix

 

“Um Erfolg bei den Frauen zu haben, muss man die Damen wie Dienstmädchen behandeln und die Dienstmädchen wie Damen”                                                                       Sprichwort                 

 

Felix sagt: „Der Feind verkleidet sich als Frau.“ Deshalb stellt er sich, wenn er sie kommen sieht, einen Haufen Ärger mit weiblichem Lächeln vor.

 

Die Anzahl der weiblichen und männlichen Singles in Miami-Dade, mit seinen 39 dazugehörigen Städten und fast drei Millionen Einwohnern, ist alarmierend hoch.

 

Einige sagen, es sei die harte Realität, die Rechnungen – pünktlich und erbarmungslos – die die Neuankömmlinge, meist Latinos, dazu zwingen Überstunden zu machen oder zwei Jobs zu haben. Hinzu kommen die Entfernung von zu Hause und die verlorene Zeit, die man täglich im Verkehr verbringt. All das verwandelt den Durchschnittsbewohner von Miami in eine verbitterte Kreatur mit wenig Zeit für Beziehungspflege. Andere wiederum nennen die Wirtschaftskrise und die überwältigenden Probleme jedes einzelnen als Hauptgrund für die vorherrschende Apathie und die Tendenz zur Einsamkeit.

 

Und wenngleich man mit mehr als 14 Stunden Arbeit täglich, wofür in unseren Heimatländern niemand Verständnis hat, seine Einkünfte aufbessert, nehmen diese einem auch die Lust, am Wochenende noch Party zu machen. Trotzdem hat man keine andere Wahl in einer Stadt, in der der Mindestlohn unter sieben Dollar liegt und die Lebenserhaltungskosten diese zu einer der 30 teuersten der Welt machen.

 

Nehmen wir dazu noch den Aufenthaltsstatus der, wenn nicht die höchste, dann doch eine sehr hohe Priorität für den lateinamerikanischen Immigranten hat. Erst legalisieren, dann die Aufenthaltsgenehmigung und danach: die Einbürgerung; einer der wertvollsten Träume eines jeden Erdenbürgers, nicht nur wegen der kurzfristigen Annehmlichkeiten sondern auch wegen der Altersversorgung.  

 

Aber jeder Schritt um diesen Status zu vervollkommnen, kostet hunderte von Dollar und um an diese „Grünen“ heranzukommen, muss man hart arbeiten. Was daraus folgt ist, dass wir in Miami-Dade die höchste Alleinstehendenrate in Florida und eine der besorgniserregendsten der ganzen Nation haben.

 

In Kuba hörte ich einige Male, Miami wäre „der Friedhof der Penisse“. Wie Nelsón, mein Macho-Freund aus der Dominikanischen Republik sagt, hier „müssen wir Tiger lange auf Beute warten“.

 

Ein Freund von mir machte sich über mich lustig, als ich vor fünf Jahren hierher kam:

 

            - Vergiss das mit den Eroberungen, das kannst du dir hier abschminken. Die Frauen in dieser Stadt sind frivol, berechnend, opportunistisch, falsch, ehrgeizig ...

 

Idalmis, Osbels Frau sagt dazu, dass sie nichts von alledem ist, außer opportunistisch! Das Geld, das Bedürfnis aufzusteigen, der Konsum, die Lust am Materiellen spielen eine wichtige Rolle. Nicht nur für die Frauen, wie mein Freund betont, auch für die Männer.

 

Felix sagt, dass die Frauen einen Neuankömmling hier auf 100 Meter Entfernung riechen. Ist das so? Am Ahnungslosen bleiben nicht einmal die Fliegen kleben! Mit einer spanischsprechenden Bevölkerung von 70 %, der höchsten des Landes, und einer Arbeitslosenrate von 12% geht Miami den Bach runter. Und ich glaube, dass Romeo, der Sänger der Gruppe „Aventura“, an Miami denkt, wenn er in seinem Bachata-Song „Dile al amor“ („Sag der Liebe“) zu Amor singt: „I don’t need no love in my life“.

 

Ich vermisse hier die hingebungsvolle Weiche der Frauen unserer Länder; die kurvenreiche Weiblichkeit - unschuldig, fast unterwürfig, wenn auch weniger tolerant - der Latino-Frauen. Sie verändern sich in diesem Land der Gesetze. Sie emanzipieren sich so schnell, werden sich ihrer Rechte und des Schutzes so schnell bewusst, dass sie anfangen, den Mann als Unterstützer oder notwendigen Partner zu verdammen. Einige vergnügen sich lieber mit Liebesspielzeugen als in die Abhängigkeit von einem Mann zu geraten!

 

Es scheint wie eine Befreiung, eine Erschütterung der Jahrhunderte des machistischen Missbrauchs. Hier sind die Frauen immer nur einen Anruf davon entfernt, sich eines besitzergreifenden, oder gescheiterten, oder gewalttätigen Mannes zu erwehren, der ihnen zur Last fallen könnte.

 

Und es ist gut, dass der Staat sie per Gesetz beschützt und dass er ihnen ihre Rechte und Mittel bewusst macht, um Exzesse und häusliche Gewalt zu vermeiden. Allerdings, in Felixs Augen steht unseren weichen Latino-Frauen dieses übertrieben harte, metallene, amerikanisierte Herz nicht. Deswegen stecken sie sich an mit dem Einsamkeitsvirus, sagt Felix. Er meint, dieser Virus würde alle neu angekommenen Frauen nach einem halben Jahr in „La Yuma“[1] befallen. Ich frage eine Freundin und sie stimmt zu, allerdings mit einem Unterschied; sie sagt, es sind wir Männer, von denen sich die Frauen anstecken. So als wären wir die gesunden Überträger. Es klingt wie eine Rache der neuen Generation, eine Revanche des anderen Geschlechts. Nun sind sie in einem Land, in dem sie einen untreuen Ehemann, einen missbrauchenden Vater oder einen gewalttätigen Freund per Gesetz wie eine Fliege zerdrücken können, während diese Delikte in unserer Heimat unbemerkt und unbestraft durchgegangen wären.

 

Ich erinnere mich an eine Freundin aus der Dominikanischen Republik die mir erzählte, dass bei ihr zu Hause der Mann von der Frau nicht gefragt wird, wohin er geht oder wann er wiederkommt, wenn er das Haus verlässt, und dazu sagt Felix: „Wir sind hier falsch, mein Freund, auf nach Punta Cana!!!

 

Es bleibt nichts, als sich der Realität anzupassen. Den Pantoffelhelden, wie sie der Meckerfritze aus dem Radio nennt, kann ich nur eines raten: Lasst euch eine neue Taktik einfallen, um mit einer Frau anzubändeln. Da man mit Geld hier nicht punkten kann, muss man mehr die Gentleman-Tour fahren; eine Blume zu ersten Treffen mitbringen, sich über interessante Themen informieren, um eine angenehme Konversation führen zu können, die Dame an einem romantischen Ort bringen, kreativ sein im Umgang mit erotischen Anspielungen, ...

 

Und für die Damen; seien Sie ein bisschen zugänglicher! Verstecken Sie wenigstens ein bisschen dieses Bild der Superunabhängigkeit, dieses „Ich brauche niemanden!“ Wir wissen, dass Sie von ihrem Lohn gut und angenehm leben können ohne die Verfehlungen der Männer zu ertragen. Wir wissen von Ihren Luxusautos – für die Sie monatlich die Hälfte Ihres Lohnes an die Bank bezahlen – Ihren Diäten, den Fettabsaugungen, den kleinen Veränderungen durch plastische Chirurgie, und so weiter, aber Vorsicht! Sie könnten am Ende allein dastehen!

 

Ich halt mich da raus. Wie viele andere Männer und Frauen hab ich mein Herz in Kuba verloren und lebe wie ein trauernder Witwer. Ich entziehe mich den sozialen Kontakten und verstecke mich hinter Bergen von Arbeit und meiner Leidenschaft für Literatur.

 

Und hinsichtlich der Frauen, die behandele ich wie Damen. Vielleicht bin ich sorgfältiger mit den Dienstmädchen und etwas skeptischer gegenüber den schick gekleideten, abgehobenen. Rogelio meint, sie sollten nicht so ungeduldig sein, die Alleinstehenden von Miami. Gehen Sie es ruhig an, denn sicher kommt Amor auch nach Miami - zumindest in den Ferien! 

 

                                                                                             José Luis Costa April, 2010

 

 

 

Nachtrag: Das Heilmittel für den Einsamkeitsvirus kann man in den Walgreens-Apotheken von Miami käuflich erwerben. Für mehr Information für dieses Gegenmittel, siehe www.felix.com.

 

 

 



[1] „La Yuma“ Spitzname für USA in Kuba

 

 

Der Gesandte

 

Und als er die vielen Menschen sah, hatte er Mitleid mit ihnen; denn sie waren müde und erschöpft wie Schafe, die keinen Hirten haben.

 

                                                                                                                      Matthäus 9,36

 

Ohne Vaterland sind wir Kubaner, „von einem Land in das nächste getrieben, beschützt durch das verachtungsvolle almosenhafte Lächeln der freien Menschen.“ So beschrieb José Martí seine Jahre der Verbannung aus Kuba. Und ich würde hier hinzufügen „Länder, in denen wir um eine Ersatzheimat betteln, damit andere das Geld zum Fenster rauswerfen können, das eigentlich uns zusteht. Um einen Aufenthaltsstatus in irgendeinem anderen Land bettelnd, egal in welchem, um unserer Wirklichkeit zu entfliehen.“

 

Und so traf ich in meinem „selbst gewählten“ Exil den Gesandten: mit einem Glas in der Hand zwischen alten und neuen Bekannten. Ich erinnere mich noch sehr gut an ihn aus Kuba, wo er „seine Schäfchen hütete“ ... wo er jedoch niemals seine Stimme gegen die modernen Heuchler erhob, die mit ihren Titeln und ihrer Macht prahlten. Im Gegenteil: Er ging mit ihnen essen, schloss Abkommen mit ihnen, wies heuchlerisch auf Gemeinsamkeiten hin anstatt die riesigen Fehler der Doktrin anzuprangern.

 

Ich verstand nie, wie ein Gesandter Gottes einem atheistischen Herrscher applaudieren kann, der Jesus’ Existenz negiert. Wie kann er Beifall klatschen, und Politikern komplizenhaft zuzwinkern, die das spirituelle, ewige Leben und die Wiederauferstehung Christi negieren?

 

In Kuba habe ich diese unterwürfige Toleranz viele Jahre beobachtet. Ich verstand, dass das marxistische System der Kirche nicht viel Raum lässt. Es erlaubt nicht mal ihr Auftreten in den Medien. Voller Verachtung schließt es sie von der Bühne der Nation aus.

 

Glücklicherweise jedoch unterwerfen sich nicht alle Christen untertänig dem großen Cäsar und so sehen wir unseren Gesandten bald als Abgeordneten in der so genannten Volksversammlung, in der er den Diskurs der Anführer der Revolution wiederholt.

 

Aber sehen wir uns die Sache mal näher an: Der Gesandte hat ein Haus in Havanna und in Varadero. Diverse halblegale Autos, mit nicht zuzuordnenden Kennzeichen und der neuesten Technologie, versteckt unter der Motorhaube.

 

Einige würden sagen, dass er sich an das Leben in der Krise angepasst hat. An das Fehlen des Alltäglichen. Und so folgt er dem Prinzip der Wetterfahne, sich immer dahinwehen lassen, wo grad der Wind hinweht. Die „Korktaktik“, wie es mein Kumpel Cemillán nennt. Kork schwimmt immer oben, egal wie stark die Strömung ist oder wie aufgewühlt das Wasser. Der Kork überlebt immer. Egal ob Cäsar anordnet, die Bevölkerung zu zählen. Oder ob er ihn dazu auffordert, alle Kinder unter zwei Jahren zu töten. Ob er dieses oder jenes verbietet. Der Gesandte wendet die „Korkpolitik“ an. Aber eigentlich beschönigt es das, was der Herr Gesandte tut. Oder sollte ich ihn lieber Genosse Gesandter nennen?

 

Wenn es nur um das Schwimmen wie Kork ginge, bei dem er sich um seine Herde kümmert, so wie es ihm als Pastor geboten ist, dann könnte man ihm vielleicht den fehlenden Mut verzeihen, seine Komplizenschaft mit den Caudillos und seinen Verrat am Christentum.

 

Man könnte ihm den christlichen Schutzumhang der Vergebung umwerfen und sogar seine Heuchelei verzeihen. Er hat sich nun mal mit Leib und Seele einem totalitären Regime verschrieben, das keinen Platz für freie Meinung lässt, geschweige denn für freie Handlungen.

 

Aber Brüder und Schwestern, liebe Kubaner, der Gesandte kann seine Pfründe nur über die vollständige Unterwerfung und bedingungslose Loyalität erreichen. Nur so kann er Autos erwerben, einen Internetzugang haben und das Land verlassen. Er tut ganz unschuldig, nennt uns jeden Sonntag Brüder und Schwestern und spielt diese Rolle perfekt. Und danach verbringt er Monate auf Missionen durch Europa, Lateinamerika und Kanada.

 

Niemals hat er Cäsar die Frage gestellt, warum die anderen Kubaner im Land nicht dieselben Privilegien haben wie er.  Warum die tausenden Exilkubaner negative Bescheide auf ihre Visa-Anfragen bekommen, um das Land zu besuchen das sie hervorgebracht hat. Der Minister weiß von all dem, aber er kommt und geht nach seinem Willen. Und seine Kinder besuchen theologische Seminare außerhalb Kubas.

 

Und immer noch könnte man Verständnis haben für sein Vorgehen. Er tut ja nur das Beste für seine Familie. Wir könnten diesen modernen Johannes Paul hochleben lassen, der das ganze Jahr seine missionarischen Werke vollbringt, sich jedoch nicht für seine schutzlosen, verstreuten Schäfchen einsetzt.

 

Aber wenn ich ihn in seinem halbmodernen Auto vorbeifahren sehe - das er für was weiß ich wie viel Geld erworben hat – ohne seine verstreuten Schäfchen auf seinen Wegen damit einzusammeln, dann kaufe ich ihm seinen leeren, gestellten Diskurs einfach nicht ab. In dem er uns jeden Sonntag sagt, wir seien alle gleich, wie Jesus und wir müssten alles mit unseren „Brüdern und Schwestern“ teilen. Getroffen und angeekelt wenden sich die wirklichen Gemeindemitglieder ab von einer Kirche, die sich in ein Reisebüro mit Vollpension und Doppelzimmer verwandelt hat.

 

Die Kanadier, Deutschen und Amerikaner, die der Gesandte bevorzugt, werden von einem anderen „Bruder“, der sich wie durch ein Wunder in eine Art Touristenführer verwandelt hat, am Flughafen abgeholt. Die „Schwestern“ werden zu geschickten Köchinnen, die Abendessen mit Langusten zubereiten, von denen niemand weiß, wo sie erstanden wurden. Am Ende gibt es ein „christliches“ Fest bei dem die Besucher ihre Dankbarkeit in Dollar ausdrücken. Das Geld wird unter dem Grüppchen von „Brüdern und Schwestern“ des Ministers aufgeteilt. Die verstreuten, schutzlosen Schäfchen hingegen bekommen lediglich Almosen von diesen Banketten. Dieses touristische Glückspaket scheint den Minister immer mehr in Anspruch zu nehmen. Es widerspricht dem eigentlichen Diskurs des Ministers, der mit erhobenem Zeigefinger „Brüder und Schwestern“ kritisiert, die sich auf „christliche“ Weise auf dem Markt positioniert haben um sich, ohne Abgaben zu zahlen, hinter der Fassade der evangelischen Mission und religiösen Treffen an der Schönheit unseres Landes bereichern.

 

Nun ist der Minister zu Besuch im Land des „Feindes“. Ich hätte große Lust, ihm Medikamente und Lebensmittel für die verstreuten und schutzlosen Schäfchen in Kuba mitzugeben. Aber ich bezweifle seine Aufrichtigkeit. Ich weiß genug über ihn. Ihn werden sie sein Übergepäck nicht bezahlen lassen, so wie sie es auf den kubanischen Flughäfen mit den „normalen“ Kubanern tun. Der Minister hat durch seinen Diplomatenpass freie Bahn „verbotene“ Güter und Haufen von Geschenken ins Land einzuführen ohne etwas dafür zu bezahlen. Aber werden die Medikamente und Lebensmittel auch an die Bedürftigen gehen?

 

Ein „Bruder“ wie er, in seiner privilegierten Position weit über dem Rest der Bevölkerung; der komplett über die Gründe dafür Bescheid weiß, der sich des Missbrauch gegenüber den Schutzbefohlenen bewusst ist, flößt mir kein Vertrauen ein. Und ich kann ihm auch nicht die christliche Absolution erteilen.

 

Die Herde hat immer noch keinen Hirten. Zu sehr ist er beschäftigt mit seinen Reisen und damit Geschäftsmann zu spielen. Damit, ausländische Delegationen zu empfangen und Geld für zukünftige „christliche Projekte“ zu bekommen. Ich hasse ihn nicht. Ich möchte diese hässliche Leidenschaft nicht in meinem Herzen haben. Es tut mir nur weh, einem Gesandten Christi zuzusehen, wie er das Gegenteil von dem tut, was er predigt. Denn er und andere die so sind wie er, schaden dem Ruf und dem Glauben an das Christentum.

 

In diesen Tagen sterben wahre Brüder in Hungerstreiks. Einer Art zeitweiligem Martyrium als Protest gegen die eiserne Disziplin, die uns von unserem Cäsar auferlegt wird. Ihre Frauen und Mütter – so ehrwürdig und in die Jahre gekommen wie jede Mutter eines würdigen und mannhaften Kubaners – protestieren schweigend in den Straßen ohne eine andere Waffe als die der Gerechtigkeit ihres Anliegens. Im weißen Gewand, dem Symbol des Friedens, und mit der Gladiole in der Hand[1].

 

Scham sollte jeder Kubaner und jede Kubanerin von Ansehen gegenüber der Komplizenschaft der Kirche, der Intellektuellen und vieler mehr empfinden, die dem Mob zusehen wie er die Damen in Weiß niederschlägt.

 

Unterdessen ist der Gesandte hier auf Geschäftsmission unterwegs; so beschäftigt mit seinem „christlichen“ Werk, dass er seine unterdrückte, schutzlose, verstreute Herde zu Hause vergisst.

 

 

 

                                                                                                              April, 2010  

 



[1] Las Damas de Blanco – Die Damen in Weiß sind eine Protestbewegung, die sich zuerst 2003 gegen die Inhaftierung ihrer Ehemänner und Söhne aus politischen Gründen formiert hat, und die seither auch gegen die Verletzung der Menschenrechte in Kuba allgemein auf die Straße geht.

 


 

Der „Kleine Kreole“

 

                                                           Arbeit versüßt das Leben. Aber nicht alle mögen Süßes.                                                                                                                                                                  Victor Hugo              

 

            - Ich fahre nicht gern in Miami. Wo ich gern fahre, ist Varadero.

 

Sagte der „Kleine Kreole“ zu mir, als wir unser erstes Gespräch über den „Zusammenstoß“, den Kulturschock führten, den er erlitten hatte als ihm die Realität dieser Metropole, genannt „Great Miami“ bewusst wurde. Es gibt viele wie ihn in Miami. Leute, die in Cuba „Schäferhunde“ waren, wie der lateinamerikanische Komiker Álvarez Guedez sie nennt, und die sich hier damit abfinden müssen, keine Rassehunde zu sein und eben nicht mehr den besten Stammbaum zu haben.

 

Die Bezeichnung „Kleiner Kreole“[1] stammt aus einer der gefeierten Reden des „Comandante en jefe“ Fidel, der damit auf eine kleine Gruppe Privilegierter anspielte die, jenseits seines Machtbereiches, für ausländische Firmen arbeiten. Logischerweise erhält diese Gruppe „Semiwohlhabender“ ein Gehalt in Dollar oder Euro unter der Hand. Das verärgert natürlich die ehrbaren Mitglieder der Nomenklatur, die ihrerseits diese Art der Extravergütung für Dienstleistungen als bourgeois und anti-proletarisch kritisieren. Aber sei es wie es sei; die Reiseveranstalter und ausländischen Firmen jedenfalls, spornen ihre kubanischen Mitarbeiter damit an, die so mit kapitalistischer Disziplin und Ernsthaftigkeit arbeiten und dafür wiederum Einschränkungen und Drohungen ihrer Kameraden aus der Einheitspartei auf sich ziehen.

 

Im Hause Gottes gibt es jedoch von allem etwas und darum mischt „Papa Kreole“ - verkleidet als Revolutionär und mit Parteiausweis - unter die „Kleinen Kreolen und Kreolinnen“ seine Kinder damit diese auch ein paar Krümel vom großen Euro- oder CUC[2]-Kuchen abbekommen.

 

Und so ist unser „Kleiner Kreole“ in die Gruppe der Auserwählten gekommen: er besitzt keinen Titel und spricht auch keine Sprachen, seine Referenz ist sehr einfach: verwöhntes Kreolensöhnchen! Auf dem listenreichen und steinigen halblegalen Wege des kubanischen Systems beschaffte er sich ein modernes Auto – ein Privileg, das üblicherweise den in Kuba lebenden Ausländern vorbehalten ist – das ihm den Anschein von Überlegenheit gegenüber den anderen fast 11 Millionen Kubanern gab, die nicht einmal davon träumen dürfen, jemals in ihrem Leben ein modernes Auto kaufen zu können.

 

Unser „Kleiner Kreole“ jedenfalls, so wie viele andere von uns, richtete seinen Kompass nach Norden aus und gelangte an den Pilgerort, ins Mekka der Kubaner: Miami. Da er weder kulturell darauf vorbereitet war, noch genügend Kampfgeist hatte, war er gezwungen niedere Arbeiten anzunehmen; in einer Bleihütte, als Bauarbeiter, als Ladenhilfe, etc. Doch da ihm die Bescheidenheit fehlt, machte ihm das schwer zu schaffen. Wie Samuel Feijoo[3] sagt: „Die einfachen Arbeiten verbittern den Stolzen.“ Er begann, in trüben Wässern zu fischen, es sich einfach zu machen,  ohne zu lernen mit den Widrigkeiten des Lebens umzugehen oder mit der Anonymität der fremden Stadt.

 

Er war in einer bequemen Welt aufgewachsen, in der „Papa Kreole“ in seiner revolutionären Doppelmoral auf der einen Seite die unnachgiebigen Prinzipien des kubanischen Systems akzeptierte und auf der anderen mit einem komplizenhaften Augenzwinkern den „rettenden“ Lohn in Devisen kassierte. Diese Vorgehensweise ist typisch für die kreolische Klasse und Ausdruck der Ungerechtigkeit gegenüber dem Rest des Landes, das täglich Kunststücke vollführt um mit einem Zehntel dieses Lohns in kubanischen Pesos zu überleben, obwohl die Lebensmittel normalerweise für eine andere Währung angeboten werden. Also hatte sich der „Kleine Kreole“ nicht wirklich auf seinen Aufstieg nach „Utopilandia“[4] vorbereitet. Es war ihm nicht einmal in den Sinn gekommen, die Sprache dieses großartigen Landes zu lernen. Wie viele andere Unglücksselige war er davon ausgegangen, das Geld würde hier in Miami auf Bäumen wachsen und glaubte, man würde auch hier mit den kleinen Tricks, mit denen sich in Kuba viele über Wasser halten, durchkommen.

 

Er ignoriert die Regeln des Kapitalismus. Doch ist das Arbeitsleben hier anders als in Kuba. Hier gibt es Kontrolle. Die Firmen haben in der Tat einen Eigentümer. Die Arbeitsmittel, die Werkzeuge ... alles kontrolliert und gezählt. Arbeitszeiten, Leistung, Pünktlichkeit, all das spielt eine große Rolle in der Marktwirtschaft. Er findet in hiesigen Heimen nicht die Trägheit der sozialistischen Länder. Ich möchte nicht mit Vergleichen beginnen, aber Cuba hat seit 105 Jahren die schlechteste Zuckerrohrernte ... mal ganz abgesehen von den vielen anderen kleinen und großen Fehlern des marxistischen Modells ...

 

Kurzum, der „Kleine Kreole“ fühlt sich nicht zu Hause in Miami. Die 300 Dollar wöchentlich reichen, um die Miete zu zahlen – die sich zwischen 600 und 900 Dollar monatlich bewegt – und der Rest geht für Kfz-Versicherung, Benzin, Handy, Kleidung und Lebensmittel drauf. Wenig bleibt ihm noch, um selbstherrlich in seinem alten Auto durch die verstopften Straßen und Autobahnen des „Gran Miami“ zu brausen so wie er es in Varadero zu tun pflegte. Noch viel weniger um in exzessiven Nächten sein Geld in den Diskos zu verschwenden.

 

  • Dieses Land ist Scheiße. Eine Fata Morgana, eine Illusion.

 

So begann er mit seiner kaum vorhandenen grauen Masse zu argumentieren. Auf diese Weise wehrte er sich gegen seinen Abstieg aus der „High Society“ Cubas in die Masse Miamis. Der überbevölkerte kleine Bezirk mit mehr als 66% spanischsprechender Bevölkerung, gilt als einer der drei ärmsten des Landes. Grund dafür ist ein Stundenlohn von 7,25 Dollar und Lebenserhaltungskosten, die Miami zu einer der 30 teuersten Großstädte der Welt machen.

 

Der „Kleine Kreole“ verleidet sich selbst seine Existenz und hört nicht auf, Miami, Florida, den Kapitalismus, Obama, den Papst und das Königreich der Himmel zu verfluchen. Und da er illegal aus Kuba mit einem Boot geflüchtet ist, darf er nicht einmal zu Besuch nach Hause. Jetzt muss er die Suppe auslöffeln, die er sich eingebrockt hat, und das bis auf den Grund. Es ist traurig, ihn so verbittert zu sehen, wie er seine Jugend und sein kaum vorhandenes Talent vergeudet. Er hat aufgegeben ohne je richtig gekämpft zu haben. Es lohnt sich nicht, mehr zu tun als darauf hinzuweisen; viele andere haben sich auf diesem Weg der Unzufriedenheit und Frustration verloren. Sie haben den schnellen Weg gewählt, um die anderen zu überholen, um in die gewünschte soziale Klasse aufzusteigen, indem sie mit Drogen oder mit Menschen handeln. Für viele von ihnen bedeutet dies lebenslange Reue.

 

Wie soll man dem „Kleinen Kreolen“ also helfen? Wie seinen Pessimismus und seine Unzufriedenheit in eine positive, aktive Haltung gegenüber neuen Zielen und Siegen verwandeln? Ich weiß es nicht. Die Mittel sind mir ausgegangen. Mich trifft die Scham für die Male, in denen ich am Ende bei den Arbeitgebern schlecht dastehe weil ich ihn empfohlen habe. Gott, gib ihm Geduld, und hilf ihm sich in „La Yuma“[5] zurecht zu finden!!!

 

In einer Sache muss ich ihm jedoch Recht geben. Es ist sicher, mehr als sicher, dass es mehr Spaß macht, ein modernes Auto in Varadero zu fahren als hier. Sie hat mehr Leben, diese Welt voll Sonne, Strand, Diskos,  mit ihren heimlichen Gehältern in Devisen, und das, obwohl man dazu verdammt ist, ein Bürger dritter Klasse im eigenen Land zu sein. Aber ein halblegales Auto zu besitzen und einen „verbotenen“ Lohn reicht nicht aus, um das individuelle Glück zu erreichen, wenn man jede Nacht mit der Angst schlafen geht, dass einem diese Privilegien am nächsten Tag genommen werden könnten. Lieber schulde ich mein Auto der Bank und bezahle monatlich meine Raten plus Zinsen in der Währung, die man mir bezahlt.

 

Utopilandia ist nicht das Paradies. Das sage ich, der ich selbst ein „Kleiner Kreole“ in Kuba war, verkleidet in Uniform und Schlips, der mit seiner Professionalität und Engagement die deutschen Chefs zufriedengestellt hat. „Unter der Hand“ spornten sie mich an und sahen mich doch als ihnen untergeordnet wegen meiner fehlenden Freiheiten und Rechte. Und natürlich habe auch ich mich vor meinen kubanischen Chefs als loyaler Arbeiter hingestellt.

 

Ich verlor meinen guten Stammbaum und meine Herkunft vor fünf Jahren als ich begann in diesem Land in der Landwirtschaft zu arbeiten, gemeinsam mit den Illegalen, und auf dem Bau ohne Arbeitserlaubnis. Aber ich habe mir einen anderen Status erarbeitet; den des freien Mannes und Unternehmers der sich nicht mehr verstecken muss, wenn er Geld ausgeben will und der keine Brotreste mehr von in Kuba lebenden Ausländern akzeptieren muss.

 

                                                                                                    José Luis Costa                     Mai, 2010

 

 

 



[1] Als „Kreolen“ werden ursprünglich Kubaner spanischer Herkunft bezeichnet. Im sozialistischen Kuba wird der Begriff häufig mit mittelständischen und so vermeintlich privilegierten Kubanern gleichgesetzt.

[2] CUC – Abkürzung für peso cubano convertible – kubanische Währung

[3] Samuel Feijoo - kubanischer Künstler 1914-1992

[4] Utopilandia – kubanische Bezeichnung für USA, als Land der Utopie

[5] La Yuma – in Kuba häufig verwendeter Spitzname für die USA

 

2175 Nächte

                                                                      „Der Freund ist einer, der alles von dir weiß, und dich trotzdem liebt.“

                                                                                                                                                                          Elbert Hubbard

 „Wenn man mir die Möglichkeit geben würde,“ erzählt Rogelio, „einen meiner im Leben begangenen Fehler wieder rückgängig zu machen, würde ich bei der Wahl nicht zögern; die Trennung von meiner Familie.“ Nur zu gut verstehe ich, was Rogelio meint, denn ich habe denselben Fehler begangen. Ich ließ meine Frau und meinen Sohn zurück in dem Glauben, dass diese Phase nur einige Monate dauern würde ...

In „Yuma“[1] gibt es eine Menge Dinge, mit denen man lernen muss, umzugehen: das Entwurzeltsein, die neue Kultur, die Sprache, die Unsicherheit, das neue Arbeitsleben ... die unterbrochenen Träume der Heimat. Wenn man mit der Familie Pläne hat und die Partner allein bleiben, voneinander getrennt, in verschiedenen Welten festgehalten, so nah und doch so fern, dann steht alles still, alles ist in Erwartungshaltung, jeder Plan wird für später aufgehoben, für die Zeit des Wiedersehens...

Wie viele zerbrochene zu Hause! Wie viele Beziehungen in Wartestellung! Wie viele Familien getrennt durch die Meerenge von Florida! Wie viele Beschränkungen, wie viele Fesseln auf der einen und auf der anderen Seite!

Um alles muss man kämpfen. Ich dachte, ich würde verrückt werden in meinem ersten Jahr hier, getrennt von meiner Familie, von meinem kleinen Prinzen. Wie viele Nächte lag ich wach, stellte mir vor, wie ich ihn ins Bett bringe nachdem er von einem Tag voller Spielen müde ist. Wer nicht Tag und Nacht ganz nah bei seiner Familie gelebt hat, mag den Wert dessen nicht verstehen; des zu Bettgehens und Aufwachens mit den Kindern, mit der Frucht der Einheit des Paars. Was gibt es schöneres als sie zu küssen, das Gefühl, sie lachen zu hören und zu merken, wie sie die kalte Realität um sie herum nicht wahrnehmen?

Wir ergeben uns einem endlosen Leiden, wenn wir auf diese kindliche Freude verzichten müssen, wenn uns die Wärme des zu Hauses fehlt. Das Leben wird hart und wirklich ... es gibt keine Freude am Ende des Tages. Die Seele trägt Trauer. Doch Rogelio und ich sind Männer, die sich im Verzicht üben. Wir trocknen unsere Tränen und mit zwei oder drei Jobs auf einmal löschen wir den Brand unseres Herzens, das verletzt ist durch die Entfernung und die Trennung von unserer Familie. Wie schon gesagt; wenn das Boot abgebrannt ist, dann gibt es keine Wiederkehr mehr, es gibt keine andere Möglichkeit, man muss weitermachen - und man muss gewinnen!

Aber es gibt noch eine andere Seite der traurigen Medaille; die Ehefrau, die Mutter, die anscheinend verlassen wurde, die sich die Tränen trocknet, und die mit dem Hohn derjenigen Missgünstigen zu kämpfen hat, die sich über das Unglück anderer das Maul zerreißen.

Fünf Jahre sind viel. Mittlerweile können Rogelio und ich wieder in Kuba einreisen. Wir haben die permanente Aufenthaltsgenehmigung und unsere kubanischen Pässe wurden „rehabilitiert“. Nichtsdestotrotz fordert der Weggang seinen Tribut; gestorbene Familienangehörige, die wir nicht verabschieden konnten, Freunde, die sich auf mysteriöse Weise entfernt haben, und die Zeit, die vergangen ist, unwiederbringlich, verloren, unerbittlich ...

Rogelios Frau hatte Visa für Mexiko für sich und ihre Kinder. Dennoch wurde die Ausreise von den kubanischen Behörden abgelehnt. Ohne Arbeitserlaubnis, ohne Ausreiseerlaubnis und am Rande der Verzweiflung versuchte sie mehrere Male, illegal das Land zu verlassen.

Und dafür braucht man schon eine gehörige Portion Abenteuerlust und Entscheidungskraft. Man macht sich des Nachts auf den Weg, unter völliger Geheimhaltung, und trifft sich an einem Hunderte von Kilometern entfernten Treffpunkt. Dort holt einen der „Führer“ ab und es beginnt der zweite Teil des „Ausflugs“. Er bringt sie an einen geheimen Ort an der Küste, wo nur wenig los ist. Nach langen Fußmärschen, in denen niemand anhält um zu helfen und in denen zurückbleibt, wer nicht mehr weiterkann, wartet man lange und unter völligem Schweigen auf die Ausfuhr in einem Schnellboot. Der Wert für diese „illegale Reise“ beläuft sich auf um die 10.000 Dollar, zu zahlen, wenn man gesund auf US-amerikanischem Boden angekommen ist.

An der Küste, im Bereich Caibarién, im Landesinneren, in Puerto Padre, im Osten oder weit westlich, in Pinar del Río gibt es keine Telefonverbindungen und so verbringt Rogelio angespannte Nächte. Vor seinen Augen spielen sich immer wieder mögliche Szenarien ab; seine Frau, wie sie mit seinen zwei kleinen Töchtern durch die Mangroven watet, bis zu den Knien im Schlamm, vom Tau durchnässt, die Feuchtigkeit, die Moskitoschwärme ... Was er nicht sieht, ist, dass es in diesen Gruppen auch Feiglinge gibt, die den Mut verlieren und mitten in der Nacht anfangen wie wahnsinnig zu heulen, die das knappe Wasser und Essen in Extremsituationen nicht teilen, und die den Frauen mit kleinen Kindern auf diesem langen Weg nicht bereit sind zu helfen. Oft kann das Schnellboot nicht anlegen und man muss noch eine weitere Nacht warten. In einigen Fällen locken die Küstenwachen die Bootsfahrer in eine Falle und die Flüchtlinge müssen nach Hause zurückkehren. Nicht selten kommt es außerdem in Gruppen von 30 oder 40 Personen vor, dass irgendein „gut meinendes“ Familienmitglied die Operation auffliegen lässt und die Behörden informiert.

Und am Ende sind alle dran. Es ist zu offensichtlich; eine Gruppe von Leuten, die keine Fischer sind, mit Frauen und kleinen Kindern, dehydriert, ausgelaugt und in Kleidung, die nicht der der ärmeren Landbevölkerung der Gegend entspricht. Alle werden festgenommen und verwarnt, den Frauen wird mit Entzug des Sorgerechts gedroht und die Männer werden tagelang in unvorstellbaren Löchern festgehalten.

Auf Umwegen gelangen sie schließlich nach Hause, mit Hilfe eines miserablen kubanischen Transportwesens, nachdem man ihnen das Mobiltelefon, den Kompass und ihren Rucksack mit allem Hab und Gut abgenommen hat. Nach drei durchwachten Nächten kann Rogelio endlich wieder durchatmen, als er seine Frau am anderen Ende der Leitung wieder zu Hause weiß. Sie, enttäuscht wegen des Misslingens. Er, mit geröteten Augen, der nicht geschlafen und mit dem Schlimmsten gerechnet hatte, dankt Gott dafür, dass er eine Tragödie verhindert hat, dass sie noch leben.

Eine Tragödie ist die Situation vieler Familien wie meiner und der Rogelios. Sie haben Visa für Mexiko oder andere Länder und bleiben doch getrennt von ihren Partnern, weil sie die „weiße Karte“, die Ausreisegenehmigung, nicht erhalten. Eine Tragödie für jeden Familienvater, der allein in diesem großartigen Land lebt, der versucht, die exorbitanten Summen in Dollar aufzutreiben die ein Visum kostet, um am Ende mit ansehen zu müssen wie die kubanischen Behörden die Ausreise nach Gutdünken ablehnen.

Rogelios Frau versuchte sieben Mal das Land zu verlassen. Sieben Mal! An den verschiedensten Punkten Kubas. Von den entlegendsten und vergessensten Winkeln der Insel aus. Und jeder „Ausflug“ endete in der Festnahme, der Strafe, umsonst ausgegebenem Geld und dem Verlust all ihres Besitzes. Eine Leidensgenossin - am Ende sieht man immer die gleichen Gesichter in den aufgeflogenen Gruppen – erzählte ihr, sie hätte es schon 11 Mal versucht und dass sie diesen Wahnsinn nun endlich aufgeben würde. Sie meinte, letztendlich klappe das ganze nur dann, wenn in der Gruppe einer „von ihnen“ drin sei, und sie es deshalb zuließen! Absurd, nicht?

Auch Rogelios Frau nahm den Rat an und setzte sich dem Risiko nicht mehr aus. In der Nachbarschaft war sie bereits verschrien. Das Telefon wurde abgehört, die Chefin des CDR[2] persönlich warnte sie vor der stattfindenden Überwachung und sagte ihr, dass ihr Fall bereits den „fähigsten Leuten“ der Staatssicherheit anvertraut worden war.

Rogelio bekam schließlich eine permanente Aufenthaltsgenehmigung und konnte so eine Familienzusammenführung beantragen. Bis dahin waren drei lange Jahre vergangen, in denen er 16 Mal in Kuba gewesen war, um seine Familie zu sehen. Erst im fünften Jahr seines Aufenthaltes in den USA, als er eingebürgert wurde, wurde die Einreise seiner Familie genehmigt.

Unterdessen sahen er und seine Frau sich alle drei Monate und chatteten Nacht für Nacht: fünf Jahre, 11 Monate und 15 Tage – 2175 Nächte ... Ich habe schon immer die Ausdauer und Hartnäckigkeit der menschlichen Spezies bewundert, aber ihr Fall ist einer von wenigen, der die Widrigkeiten des Lebens bezwungen hat. Ihre Tränen, ihre Seufzer, die durchwachten Nächte, die Ängste, die Eifersüchte ... sie sind unzählbar.

Da ich die beiden kenne, weiß ich, dass ihre Beziehung die Trennung überdauert hat, weil sie solide ist und weil er der Typ Mann ist, der seiner Familie niemals den Rücken zukehren würde. Seine Frau und seine Töchter hatten, obwohl er sie zurücklassen musste, immer seinen emotionalen und finanziellen Rückhalt. Yahoo.messenger und Cybersex trugen ihren Teil zum Durchhalten bei - zumindest bis die „fähigsten Staatssicherheitsmitarbeiter“ die Webcams im Internet blockierten weil sie sie als „hochgradig gefährlich“ einstuften. 

In jedem Fall verging nicht eine dieser 2175 Nächte, in der er ihr nicht sagte, sie sei die schönste Frau im Universum. Es fiel ihm nie schwer, ihr das zu sagen und ich nehme an, dass es das ist, was eine Ehe ausmacht: sich gegenseitig immer wieder Bestätigung zu geben. Schließlich hat es seine wunderschöne Frau geschafft, ihn für zwanzig Jahre zu verzaubern. Aber natürlich sind auch Komplimente und Liebkosungen irgendwann nur noch gesagt und nicht wirklich gemeint, und über kurz oder lang können sie auch stören, besonders die Frauen, deren Ehe nicht funktioniert. Für sie ist das Schlimmste nicht, kritisiert zu werden, oder Thema des Dorfklatsches zu sein, dem man sich so und so nicht entziehen kann. Wenn die Waschweiber nichts finden, dessen sie dich bezichtigen können, geht es eben nur um dein schlechtes Aussehen und deine Verschwendungssucht. Viel schlimmer ist, sich mit den Männern abgeben zu müssen, die beharrlich ihr Urteil über die vermeintliche Untreue des Ehemanns zum Besten geben und das ohne jede Basis. Kleine Feiglinge, die nicht den Mut aufgebracht haben, sich der Demütigung, im eigenen Heimatland Bürger dritter Klasse zu sein, zu entziehen.

Glücklicherweise gibt es auch wahre Freunde, Zeugen eines jeden schmerzhaften Abschnitts bis zur endgültigen Wiedervereinigung. Freunde wie ich, die Rogelios Anstrengungen, seine Frau in allem zu unterstützen, zu schätzen wissen und die sie für das, was sie ist bewundern; eine Übermutter. Ich kenne viele „Mütter“, die in einer wirtschaftlichen Extremsituation wie dieser das Handtuch geworfen, und ihre Kinder als Klotz am Bein zurückgelassen haben um zu überleben. Rogelio und ich, beide Kinder aus kaputten Familien, wissen um den Wert der Familie. Natürlich könnten weder ich, noch die „Makellosen“, die sich ständig eine Meinung anmaßen, sich in ihre Lage versetzen. Eine Frau mit zwei Töchtern, allein lebend, konfrontiert mit den Gemeinheiten, den Hindernissen und dem ständigen Verzicht auf die alltäglichsten Dinge auf Kuba.

Ich habe alle ihre Geschichten gehört, nicht weil sie etwa damit prahlen wollte, sondern aus meiner Neugier als Autor heraus. Und ich kann meine Bewunderung für die beiden und die Odyssee, die sie hinter sich gebracht haben, nicht verbergen. Er, auf einer Reise auf der Suche nach einem besseren Leben und sie, eine moderne Penelope, die alles unternimmt, um sich wieder mit ihrem Odysseus zu vereinen.

In einer Sintflut oder in einem Schiffsunglück, würde ich mich jedenfalls vorsehen, mit wem ich mir ein Rettungsboot teile. Ganz sicher nicht mit einem aus der Mittelschicht oder mit den Damen aus gutem Hause, die ihr vorwerfen, sie sei vulgär, weil sie sich nicht scheut, Schimpfwörter zu benutzen, wenn die Situation es verdient.

Ich habe lieber sie als Freundin, weil sie spontan und direkt ist. Die anderen beunruhigen mich. Diese distinguierten Frauen, die sich ständig als etwas Besseres ansehen. Genauso wie die Leichtfertigen, diese Marionettenmänner, die nicht den Mumm hätten, ein Drittel des Unglücks und Pechs auf sich zu nehmen, was sie erleiden musste.

                                                                                                                                   20. Juli 2011    

 

 

 



[1] Yuma – In Cuba verwendeter Spitzname für die USA

[2] CDR – Comité de Defensa de la Revolución: Komitee zur Verteidigung der Revolution. Einheit auf Hausblockebene, die die revolutionaeren Aktivitaeten der Nachbarn Ueberwacht. Sie beruft Versammlungen ein und organisiert freiwillige Arbeitseinsaetze und andere politische und Freizeitaktivitaeten.

 

Am Scheideweg

 

Mensch ist, wer die Wurzeln der Dinge ergründet. Alle anderen sind Schafe…

 

José Martí

 

Glücklicherweise leben wir nicht mehr in den finsteren Zeiten Kubas, in den Siebzigern oder zu Beginn der achtziger Jahre. Heute kann ich aus dem Land “fliehen” und dem sozialistischen  Regime für immer Lebwohl sagen ohne dass die politische Maschinerie unsere Mitmenschen manipuliert, damit sie meine Familie ausstoßen. Heute wird niemand mehr Eier nach ihnen werfen oder sie mit Beleidigungen und Schlägen demütigen. Sie werden nicht mehr aus der Gesellschaft ausgeschlossen wie giftige Insekten, die die Konsequenzen dessen tragen müssen, dass sie die Ideen des Kommunismus nicht teilen und das “Werk” der Revolution nicht bewundern.

 

Das System hat seine Strategie geändert. Und wenngleich es immer noch eine obsolete Politik verfolgt, die das Land in Armut, Demotivation, Korruption und Hass versinken lässt, versucht es dennoch, sich dem Rest der Welt anzunähern, der totalitäre Regime mit immer mehr Abscheu betrachtet. In dem nicht mehr akzeptiert wird, dass ein einziger Mann, jener moderne Cäsar, verkleidet als Engel der Armen sich bis in alle Ewigkeit an der Macht hält, der jeden Versuch einen anderen Weg einzuschlagen unterdrückt, ohne anderen Parteien die Möglichkeit der Existenz zu geben.

 

Ich werde mich in die Leere der Verbannung stürzen können und Kunststücke in fremden Ländern vollbringen um vorwärts zu kommen, während mein Herz welk wird ohne meine Lieben. Sie werden nicht mehr Repressalien ausgesetzt sein, so wie es früher üblich war, aber ich weiß auch, dass es ihnen nicht gut gehen wird mit all der Unsicherheit, die die Entfernung und das Exil auslösen.

 

Einige Zeit wird vergehen bis ich meinen Kleinen wiedersehen werde. Dieser unermüdliche kleine Reiter, wie er auf meinen Schultern saß, hungrig nach Abenteuern und wie ich über seine kleinen Sprachwitze lachte. Ich werde das Fieber der Einsamkeit des Mannes spüren, und nächtelang wach liegen in Sehnsucht nach der unerreichbaren Anwesenheit meiner Frau.

 

Wandern werde ich – wie es Martí beschreibt – “von einem Land zum nächsten getrieben, beobachtet wie ein wildes Raubtier. Und mit einem entkräfteten Lächeln werde ich den Tod meiner Seele vor der Verachtung des freien Mannes verdecken.“ Jedoch ohne die Demut zu verlieren werde ich nach vorne blicken und ohne mein Herz mit Hass und Unmut zu füllen werde ich erfolgreich sein auf dem gefährlichen Weg in die “grausame und erbarmungslose” Welt.

 

Jetzt hängt es von mir ab: Entweder siegen oder mein Leben beweinen. Entweder mich in die Reihen der Gewinner eingliedern oder schweigend und resigniert in die Armee der Verlierer.

 

“Es gibt keinen festeren Boden als den, auf dem man geboren ist,” schrieb Martí Ende des 19. Jahrhunderts. Zu dieser Zeit war er zweimal aus Kuba deportiert worden. Grund waren seine Forderung nach der Unabhängigkeit Kubas und seine Ideen der völligen Freiheit des Menschen und der Demokratie.

 

Kuba ist kein fester Boden für die Kubaner; weder für die Millionen die unter den Stromsperren, den Moskitos, der allgemeinen Knappheit, der Trägheit und der Diskriminierung durch die eigene Regierung leiden, noch für die, die im Exil leben und ihre Heimat vermissen. Dennoch ertragen sie eher die Folter der Verbannung als den derzeitigen Militarismus, der die Freude der Kubaner immer mehr verblühen lässt, der sie ihrer Rechte und Freiheiten beraubt und der sie gleichzeitig in ihrer Kreativität und Eigeninitiative beschneidet unter dem Vorwand, das schützen zu müssen, was der Sozialismus erreicht hat.

 

Die Kubaner leben wie ein riesengroßes Ameisenvolk, das dazu bestimmt ist Arbeiter oder Soldaten zu sein. Sie haben nicht das Recht etwas anderes zu tun, als blind dem Regime zu dienen. Die Ameise Z, die plötzlich anders denkt oder die Abfolge des Volkstanzes Guantanamera verändert, wird als “höchst gefährliches Element, das die Sicherheit des Vaterlandes in Gefahr bringt” eliminiert. Oder in einem anderen Fall wird sie des Verrats angeklagt, so als obliege der Patriotismus lediglich einer einzigen Doktrin und einer einzigen politischen Strömung.

 

Die Kubaner drinnen kennen die Geschichte der Ameise Z nicht. Diese sympathische, fröhliche Ameise, die sich getraut hat, das Regime der Disziplin in der Kolonie herauszufordern. Die den Volkstanz “Guantanamera” anders tanzt und nach Utopilandia[1] flüchtet, weil sie es nun einmal wenig sinnvoll findet, dass alle zum selben Zeitpunkt, dieselbe Choreographie je nachdem was der Herrscher vorschreibt, tanzen.

 

Ein Artikel mit diesem Inhalt würde in Kuba nicht in Umlauf kommen, denn dort herrscht eine Diktatur der Medien, in der die Bevölkerung lediglich das erfährt, was die Regierung interessiert. Deswegen werden tausende Dollar ausgegeben, um Fernseh- und Radiosender des “Feindes” zu blockieren, obwohl man das Geld lieber nutzen sollte, um das Stromnetz des Landes auszubauen oder die verwahrlosten Energiezentralen zu modernisieren. So könnte man ein für allemal die Stromausfälle vermeiden.

 

An Kritikern und “Überzeugten”, die meinen Schritt die Heimat, meine Freunde und Familie zu verlassen nicht nachvollziehen können, mangelt es nicht. Es ist traurig, dass weder ein offener Dialog noch eine ehrliche Debatte möglich ist, in der man seine Meinungen frei ausdrücken kann ohne Angst vor Repressalien zu haben.

 

Und es gibt auch die anderen: die die nicht in Kuba leben und die die Revolution als eine Hochburg, als einen Leuchtturm der Würde gegen die “Feindlichkeit des Imperiums” betrachten. Von außen sieht alles gut aus. Ich erinnere mich an eine Gruppe älterer Kommunisten in Österreich, die den kubanischen Sozialismus verteidigten. Jeder von ihnen hatte einen gültigen Pass um dahinzureisen, wo es ihn hinzog, jeder hatte ein modernes Auto vor der Tür der Zentrale der so genannten “Kommunistischen Partei von Österreich” und ganz sicher auch ein Bankkonto, das in allen Teilen der Welt etwas wert ist, und jeder konnte frei seine Bürgerrechte ausüben. So fällt es leicht, Kommunist zu sein! Ich habe nichts gegen Kommunisten, auch nicht gegen Juden oder Muslime. Wir alle sollten frei sein, nach der Doktrin zu leben, mit der wir uns am wohlsten fühlen. Und immer sollte diese uns Raum lassen, um selbst zu denken und zu entscheiden. Ohne Beschränkungen.

 

Auf meiner Reise durch Cancún besuchte ich auch die Insel der Frauen, einen Teil Mexikos, den unser Apostel Martí in einem seiner Berichte über die Reisen durch den amerikanischen Kontinent sehr gepriesen hat. Interessanterweise haben die Kubaner nicht einmal dazu das Recht; frei zu reisen, ins Land einzureisen und es zu verlassen oder einfach nur ihre Nachbarländer kennen zu lernen, um so unsere gemeinsame Geschichte zu erfahren.

 

Also wende ich mich ab von den “Schafen”. Ich wähle den Weg nach Utopilandia. Hier komme ich, Lady Liberty! Empfange mich im Getümmel und lass mich meine Jahre der Gefangenschaft vergessen.

 

                                                      Mexiko, September 2005

 

                 

 

 

 



[1] Utopilandia – kubanische Bezeichnung für USA, als Land der Utopie

 

 

Vorwort

 

Bizarr. Waaghalsig. Verrückt.

 

Das Dumme an dieser Geschichte ist:

 

Alles ist real!

 

„Ich habe nur einen Strauß Blumen

 

gepflückt und nichts hinzugefügt

 

als den Faden, der sie verbindet.

 

 

 

Michel Eyquem de Montaigne

 

Französischer Philosoph (1533 – 1593)

 

 

 

Wenn Sie dieses Buch zur Hand nehmen, erwartet Sie eine Geschichte, ein Abenteuer mit reichlich gewonnener Lebenserfahrung eines Menschen, für den Seine Familie das höchste Gut ist.

 

Mit ihm, seiner Familie, seinen Freunden und Bekannten verbindet mich und meine Familie eine nunmehr über zwanzigjährige Freundschaft.  Unsere erste Begegnung fußt auf einem Erlebnis in Kuba Anfang der 90er Jahre. Im Ergebnis dessen entwickelte sich eine tiefe Freundschaft zwischen Menschen, die das Leben in beiden gesellschaftlichen Systemen, im Sozialismus und der sogenannten freie Marktwirtschaft, kennengelernt haben und die ihre Lebensumstände hier und da lieben und hassen gelernt haben.

 

Zahllose, teils Nächte lange Gespräche, allein und mit Familie, in schönen und schwierigen Stunden der letzten zwanzig Jahre, ließen diese Freundschaft wachsen. In und aus vielen Zügen unserer Konversation lässt sich teilweise sogar eine Seelenverwandtschaft erkennen.

 

Es erfüllt mich mit Stolz und einer gewissen Ehre, die Einleitung zu einer Geschichte, den wahren Erlebnissen von Rogelio geben zu können. In den vielen Begebenheiten erfahren die Leser viel vom Gefühlsleben des Rogelio, sowohl von Ängsten aber auch von freudigen Ereignissen.

 

Durch die zahlreichen Geschichten erfahren Sie mehr über den wahren Rogelio, seinem Denken und Handel, dass durch Offenheit, im echten Bewußtsein von Liebe zu seiner Familie und echter Freundschaft zu seinen Freunden, geprägt ist und geduldig darauf wartet von uns aufgenommen zu werden.

 

Andreas Biermann

 

 

Das Dilemma Yuma [1]     

 

                                               Niemand ist mehr Sklave als der sich für frei hält, ohne es zu sein.“

 

                                                                                                                                                                                  Goethe

 

-¿La Yuma?, no, ¡la llama!, ¡candela pura, mi social! [2]

 

So begrüßte ein Freund den wir seit Jahren nicht gesehen hatten, Rogelio und mich in Miami. Mein dominikanischer Kumpel Nelsón würde dazu sagen: “Das hier ist nur was für richtige Männer!”

 

Mag sein, dass dieser Spruch etwas dramatisch klingt, aber in jedem Fall ist es hier nicht so leicht, wie sie es uns in unserer Heimat angepriesen haben. Man muss schon hart schuften, um vorwärts zu kommen. Viel arbeiten, mit zwei oder sogar drei Jobs gleichzeitig. Sich jede Stunde Schlaf hart erkämpfen in dieser Stadt die im Begriff ist, sich in eine der widersprüchlichsten Metropolen weltweit zu verwandeln. Mit mehr als 66 % Spanischsprechern, zweihunderttausend Haitianern, und fast einer Million Kubanern verschiedener Einwanderungsgenerationen; mit ihrem Hass, ihrem Groll, ihren Träumen und Hoffnungen … einige nach Freiheit und Triumph gierend; andere, die nicht in der Lage sind, sich von ihren Wunden zu erholen. Einige apathisch, der Indoktrination müde, andere, die sich an den Höchstbietenden verkaufen. Viele - die meisten - verschwenden ihr Leben in den Fabriken und Fastfood-Restaurants für einen grotesken Lohn von fünf bis acht Dollar die Stunde. Nur die wenigsten erzielen Erfolge im harten Geschäftsleben.

 

Ich erinnere mich noch an Rogelio bei seiner Ankunft. Er bezahlte die erforderlichen 200 Dollar und beantragte seine Arbeitserlaubnis, die ihm nach drei Monaten ausgestellt wurde. In der Zwischenzeit, ungeduldig endlich etwas Nützliches zu tun, fing er an in der Landwirtschaft in der Nähe von Homestead für sechs Dollar die Stunde zu arbeiten. Wir Kubaner kennen die Strenge und Härte kontinuierlicher Arbeit nicht, Arbeit ohne Ausreden, ohne Kompromisse, die uns, fast wie Sklaven in Eigentum des Arbeitgebers verwandelt - zumindest für die acht oder mehr Stunden eines Arbeitstages. Keine Möglichkeit, sich hinter den Büschen zu verstecken, wie wir es auf unserer kleinen Insel taten, um die gnadenlose Sonne in den Landinternaten[3] zu vermeiden. Keine Ausreden, keine Vorwände um sich der Verantwortung zu entziehen. Der Arbeitgeber zahlt diese sechs Dollar, verlangt aber das Doppelte oder Dreifache an Leistungsbereitschaft. Erbarmungsloser Kapitalismus, ohne Unterstützung, ohne Gewerkschaften, ohne das Recht zu protestieren, ohne Krankenversicherung, ohne alles, was nicht die totale Hingabe in diesen Stunden und die bestmögliche Vorbereitung bedeutet. Um am nächsten und übernächsten und überübernächsten Tag genauso viel zu geben - um die Tortur in einer Routine zu verwandeln, die der Seele den makabren Anschein eines Sünders gibt, der jedes Morgengrauen wieder zum Schafott geführt wird.

 

Und dann endlich, mit der Arbeitserlaubnis in der Hand verlangt es einem nach einer besseren Anstellung, in der man sich mehr in dem Bereich einbringen kann, den man in der Heimat gelernt und ausgeübt hat. Als Rogelio seine erste Anstellung als Rezeptionist in einem Hotel in Miami Beach bekam, sagten ihm einige, das sei eine Fabrik mit Krawatte. Und irgendwie ist es richtig. Denn letztendlich bedeutet es acht Stunden Arbeit ohne Pause, unter ständiger Beobachtung der Sicherheitskameras, in der eine Menge Talent und Fähigkeit für einen Mindestlohn gefordert werden.

 

Miami ist die drittärmste Stadt der USA. Mehr als 42% des Gehaltes gehen allein für die Miete drauf, während der Durchschnitt in anderen Städten bei 26% liegt. Die Gehälter hier bewegen sich zwischen fünf und acht Dollar Stundenlohn. Das reicht grade mal so für die Fixkosten. Jedes noch so kleine Zimmer - Studio oder “efficiency”, wie man das hier nennt - mit Bad kostet 600 bis 800 Dollar monatlich, abhängig vom Stadtviertel. Einzimmerwohnungen kosten bereits zwischen 800 und 1.400 Dollar. Jeder Angestellte der acht Dollar die Stunde verdient, so wie die meisten hier - angenommen er arbeitet 40 Stunden die Woche, die Rentenbeiträge und Krankenversicherung abgezogen - bringt 1.200 Dollar nach Hause, wovon schon die Hälfte oder mehr für die Miete draufgeht. Die einzigen Glücklichen sind hier Paare mit zwei Einkommen oder Wohngemeinschaften. Aber die Singles, die ein Drittel der Bevölkerung mittleren Alters ausmachen, kommen nur mit zwei oder mehr Anstellungen aus.

 

In Yuma, in diesem Fall in Miami, ist der öffentliche Nahverkehr ein Desaster, sodass man dazu gezwungen ist, sich ein eigenes Auto anzuschaffen. Die Entfernungen, vollgestopfte Straßen, undisziplinierte Fahrer in einer übervölkerten Stadt lassen den Ortswechsel zu einer täglichen Odyssee werden. Außerdem braucht man natürlich noch eine KfZ-Versicherung, ein Handy und Geld für das Benzin, das stetig wie überall teurer wird.

 

- Hier vertrocknet dir die Tränendrüse.

 

 

 

Sagte mir ein alter Freund als er mich ankommen sah. Ob das stimmt? Ich habe so viel geweint, aus Wut, Schmerz, Heimweh und Haltlosigkeit, dass ich nicht mehr weiß wie das Weinen geht.

 

- Was dich nicht umbringt, macht dich stärker.

 

Ich nehme an, wir werden unempfänglich für Schmerz. Wir stärken uns. Lernen mit der Trauer umzugehen, mit der Verzweifelung, mit der Einsamkeit …

 

Ich habe die Zügel meines Lebens in diesem Land in die Hand genommen. Ohne Krankenversicherung, ohne familiären Halt. Ohne die liebende Hand einer nahestehenden Person am Ende des Tages. Ohne irgendjemanden, an den ich mich hätte wenden können, auf einem sinkenden Schiff, ohne Möglichkeit es zu verlassen. Es gibt kein zurück für mich. Keine andere Möglichkeit als entweder zu triumphieren oder meine Niederlage schweigend zu schlucken, ohne jemand anderem als mir selbst die Schuld geben zu können.

 

Hier gibt es Nörgler aller Couleur. Leute, die sich in Kuba beschwert haben und sich hier weiter beschweren. Ich schweige lieber. Ich verwende meine Energie darauf – die, die mir noch bleibt – mir einen professionellen Weg zu ebnen. Indem ich Englisch lerne und neue Strategien um an Einkünfte zu kommen. Um die Zahlen auf meinem Kontoauszug zu perfektionieren. Ich habe meine eigene kubanisch-amerikanisierte Philosophie: Geld machen!!

 

Und Rogelio hat die seine: eine schnelllebige und konsumorientierte Gesellschaft überleben, in der es keine Zeit gibt, sich mit den spirituellen Werten aufzuhalten oder ein gutes Buch zu lesen. Und doch behält er seine ethischen Vorstellungen, seine Güte und seinen Sinn für Solidarität.

 

Yuma hat von allem etwas: Menschen die fast in Armut leben um der Familie in Kuba oder in anderen Ländern zu helfen, die meist die Schicksalsschläge und das Unglück gar nicht zu bewerten weiß und nur die eine Seite der Medaille sieht. Und Menschen, die ihr Gedächtnis verloren zu haben scheinen und die der Mutter die sie zurückgelassen haben nicht einmal mehr einen Brief schreiben. Die Armen. Sie wissen nicht wie schmerzhaft es ist, einen geliebten Menschen gehen zu lassen. Und so wird wohl das Schuldgefühl ihre untröstliche Strafe für den Rest ihres kummervollen Lebens sein. Alles hat seinen Preis. Auch die Freiheit.

 

Es gibt Menschen, die das ihnen Gebotene nicht wertschätzen, die vielen Möglichkeiten. Viele bemerken sie nicht einmal. Andere – die Kritiker – kann man in zwei Gruppen unterteilen. In die, die hierherkommen und immer noch in ihrer Zeit gefangen bleiben, in derselben eintönigen Arbeit mit der sie einmal vor Jahren begonnnen haben, ohne etwas dafür getan zu haben, sich zu verbessern. Und diejenigen die nicht den Mumm haben, etwas zu probieren. Sie kommentieren aus der Sicht ihres bequemen aber kargen Lebens ohne sich die Mühe zu machen, alle Facetten der Menschen kennen zu lernen, die hier leben.

 

An diejenigen, die in ihrer Bequemlichkeit verharren: wie sagen die Psychologen? Ich schenke ihnen ein verständnisvolles und zugleich trauriges Lächeln. Ich kritisiere sie nicht für ihre Bequemlichkeit oder ihre fehlende Initiative. Ich beneide sie nicht dafür, an der Seite ihrer Lieben aufzuwachen. Ich werfe ihnen nicht vor, dass ihr Dasein jene essentiellen Dinge im Leben eines freien Mannes vermissen lässt. Ich verurteile sie nicht dafür, dass sie ihr Glück nicht versucht haben. Oder dafür, dass sie sich ihre Träume haben entreißen lassen und die Kraft das Fliegen zu versuchen. Sicher nicht. Ich weiß, dass Yuma kein rosarotes Kissen ist auf das man sich betten kann. Das wusste ich schon vorher. Und das ist auch gut so, denn nur das, was wir uns mit Mühe erobert haben, schätzen wir wert.

 

Vielleicht werden Rogelio und ich keine Millionäre im finanziellen Sinne in Yuma. Aber so wie wir uns in dieses gefährliche Unternehmen hineinbegeben und bei null mit nichts angefangen haben, so werden wir in der Lage sein, mit Würde und dem Blick geradeaus dem gegenüber zu treten, was das Schicksal für uns bereit hält.

 

In der Zwischenzeit Freunde, mögt ihr sagen, was ihr wollt: ich finde im Atlas kein anderes Land, in dem ein frisch Angekommener ohne Geld in den Taschen, allein durch harte Arbeit und mit dem Ziel vor Augen dazu kommen kann, innerhalb von zwei Jahren sein eigenes Geschäft aufzubauen, alle seine Papiere zu besitzen und einen Status der es ihm ermöglicht, in jeden Teil der Erde zu reisen, zu kommen und zu gehen ohne sich jemals wieder seiner Herkunft* schämen zu müssen.

 

 

 

                                                                                                                            Miami, März 2010

 

 

 

                                                                                    

 

* Wobei ich mich nicht auf meine kubanische Herkunft oder auf die aus einem anderen Dritte-Welt-Land sondern vielmehr auf den kubanischen Pass beziehe, der uns jedes Mal unausweichlich als möglichen Flüchtling ausweist und deshalb Verzögerungen, Kontrollen, unerwünschte, indiskrete und verfängliche Fragen und manchmal sogar die Rückführung in die Heimat nach sich zieht.

 



[1] Spitzname für USA in Kuba

[2] Parodie auf die in Kuba weit verbreitete Verherrlichung der USA als Land der unbegrenzten Möglichkeiten, das sich nach Ankunft oft als “hartes Pflaster” erweist. Wörtlich übersetzt: „Yuma? Nein! Heiße Flamme, eine lodernde Kerze, (die Dich verbrennt) mein Freund!“

[3] Konzept des kubanischen Regimes bei dem kubanische Schüler mehrere Wochen im Jahr in Internaten auf dem Land verbringen, um neben der Schule in der Landwirtschaft zu helfen und so zum vom Kommunismus propagierten „neuen Menschen“ erzogen zu werden.